Beck, Struck und Steinmeier kritisieren die Union - Pofalla und Röttgen schelten die SPD: Politiker der Großen Koalition dreschen wieder mit Verve aufeinander ein und versuchen, das Profil ihrer eigenen Parteien zu schärfen. Die zweite Koalitionshalbzeit verspricht, turbulent zu werden.
Berlin - Kompromiss war gestern - jetzt geht es um Abgrenzung, Konflikt und um "Tabu-Zonen". Der SPD-Vorsitzende Kurt Beck, der neue Vizekanzler Frank-Walter Steinmeier und Fraktionschef Peter Struck strichen am Wochenende mit Vehemenz die Unterschiede zwischen den Regierungsparteien heraus. Die Union wertete die Kritik als "Ausdruck von Verzweiflung" - und bereitet ihrerseits im Auftrag von CDU-Chefin Angela Merkel einen "Abgrenzungsbeschluss" vor, um sich von der SPD zu distanzieren.
Streitpunkt eins: der Mindestlohn. Top-Sozialdemokraten verlangten erneut, ihn zumindest in der Postbranche einzuführen. Auf dem Bundeskongress der Jungsozialisten in Wolfsburg betonte Beck, die Diskussion sei für die SPD "alles andere als beendet". Sie werde den Kampf im Frühjahr erneut aufnehmen, wenn es eine neue Gesetzeslage gebe. Ähnlich Parteivize Steinmeier: "Es kann nicht sein, dass man etwas in einer Koalition vereinbart, und anschließend will die Union nichts mehr davon wissen." Struck wiederum riet in der Wochenzeitung "Das Parlament" bei Landtagswahlkämpfen zu einer Unterschriftenkampagne für den Mindestlohn.
Streitpunkt zwei: die innere Sicherheit. Beck sagte: "Anlass zur Sorge macht, dass einige - auch Mitglieder der Bundesregierung und der Union - das Maß und das Ziel aus den Augen verloren haben." Eine offensichtliche Anspielung auf Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU).
Streitpunkt drei: die hohe Diplomatie. Führende Unions-Politiker griffen Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der Debatte um die Chinapolitik scharf an. Sie warfen ihm vor, sich mit seinen kritischen Tönen zum Treffen von Kanzlerin Merkel mit dem Dalai Lama nur selbst profilieren zu wollen. Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU) kritisierte Steinmeier als "Stichwortgeber für ausländische Kritik". Steinmeier habe die Proteste Chinas "eher befeuert, als sie zu beruhigen".
Steinmeier wies die Kritik im SPIEGEL-Interview zurück. Auch SPD-Generalsekretär Hubertus Heil hat die Attacken aus der Unionsspitze gegen Steinmeier zurückgewiesen. Der Vizekanzler stehe für einen Kurs des Dialogs und der Verständigung - auch gegenüber schwierigen Ländern wie China. Eine "Politik der Konfrontation" gegenüber China, Russland oder der Türkei wäre nach seinen Worten "ein verhängnisvoller Weg" für Deutschland. Eine solche "neokonservative" Politik im Stil George Bushs sei mit der SPD nicht zu machen.
Union: Konfrontation bei Reizthemen
Derweil bereitet CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla laut "Wirtschaftswoche" in Merkels Auftrag einen "Abgrenzungsbeschluss" für den bevorstehenden Parteitag vor. Der Antrag soll "Tabuzonen" für die Zusammenarbeit mit der SPD festlegen, die nicht verhandelbar sind. Ziel sei "eine klare Distanzierung" vom Koalitionspartner, heißt es aus dem CDU-Vorstand.
Dazu will sie sich laut "Rheinischer Post" als "Volkspartei der Mitte" profilieren. Die Zeitung zitierte aus dem Entwurf eines Leitantrags, der bei Reizthemen wie Mindestlohn, Vermögensteuer, Rente mit 67 und Atomkraft auf Konfliktkurs zum Koalitionspartner geht. Der Antragsentwurf unter dem Titel "Chancen für Alle" soll nächsten Sonntag in Hannover vom CDU-Vorstand beschlossen und am folgenden Tag dem Bundesparteitag vorgelegt werden.
Unions-Fraktionsgeschäftsführer Norbert Röttgen wies die SPD-Kritik an Merkel als bloßen Ausdruck von Schwäche zurück. "Das ist mehr Ausdruck von Verzweiflung als von Strategie", sagte er dem "Tagesspiegel".
Insgesamt ist die Stimmung in der Koalition trübe. SPD-Fraktionschef Struck formulierte es so: "Die Wetterlage ist bedeckt, jedenfalls nicht sonnig." Die stellvertretende SPD-Vorsitzende Andrea Nahles sieht aber keine existenzielle Koalitionskrise. "Wir haben aus meiner Sicht keinen Grund, insgesamt die Koalition in Frage zu stellen", sagte sie. Auch Linke-Parteichef Lothar Bisky sieht die Große Koalition noch nicht am Ende. "Ich glaube nicht, dass in nächster Zeit eine Kurskorrektur möglich wird", sagte Bisky der Nachrichtenagentur AP.